Vor jeder Wahl wird die „Politikverdrossenheit“ besungen, und die Wahlbeteiligung fällt dennoch stetig weiter. Doch das Problem liegt tiefer: Selbst von den abgegebenen Stimmen wird ein zunehmend großer Anteil nicht gewertet. Sie scheitern an einer Sperrklausel. Eine einfache Idee verspricht Abhilfe.
Am 18.9. finden in Berlin die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlungen statt. Dabei stehen je nach Bezirk zwischen 17 und 21 Parteien zur Auswahl, von denen momentan 5 im Abgeordnetenhaus sitzen (siehe Abbildung).
Bei der Wahl gilt die übliche 5%-Sperrklausel, wodurch nur Zweitstimmen für Parteien mit mehr als 5% der Zweitstimmen gezählt werden. Diese 5%-Hürde soll verhindern, dass die Parteienlandschaft zu bunt und dadurch handlungsunfähig wird. Doch ist auch die Gleichheit der Wahl (welche ein demokratisches Grundprinzip darstellt) ein wichtiger Aspekt, der durch solche Sperrklauseln verletzt wird.
Bei der Wahl in Mecklenburg Vorpommern vom 4.9. sind z.B. 16.4% der Stimmen durch die 5% Hürde nicht repräsentativ Vertreten. Bei der letzten Landtagswahl in Berlin (2011) waren ebenfalls 10.1% der Stimmen nicht „gültig“. Bei der Bundestagswahl 2013 waren 6,8 Millionen Zweitstimmen (15,7%) nicht vertreten. Zusammen mit den historisch niedrigen Wahlbeteiligungen bleiben somit nur knapp über 50% der Stimmen der wahlberechtigten Bevölkerung als Legitimation unserer Repräsentanten.
Eine Ersatzstimme könnte die Gleichheit der Wahl herstellen. Das Grundprinzip ist denkbar einfach: statt der abgegebenen Stimme wird nun auch eine Ersatzstimme (bzw. eine Reihenfolge von Stimmen) abgegeben. Erreicht die gewählte Partei unter den klassischen Stimmen nicht die Sperrklausel, greift die Ersatzstimme (bzw. die Ersatzstimmen, der Reihe nach). Kann ein alternatives Wahlverfahren basierend auf Ersatzstimmen unsere Demokratie bereichern?
Probleme des konventionellen Wahlverfahrens
Wir haben bereits das verletzte Prinzip der Gleichheit angesprochen (Artikel 38 GG), nach welchem alle Stimmen gleich viel zählen müssen – bzw. der relative Anteil der Stimmen der relativen Anzahl an Sitze im Abgeordnetenhaus, gerundet auf ganze Abgeordnete, entsprechen sollte. Darüber hinaus entstehen im aktuellen Wahlsystem weitere (problematische) Dynamiken.
Ein strategischer Wähler wägt nicht nur die Parteien gegeneinander, sondern auch den Beitrag den die eigene Stimme haben wird. Basierend auf den Wahlprognosen erscheint es uns unlogisch die präferierte Kleinpartei zu wählen, da diese basierend auf den Wahlprognosen an der Sperrklausel scheitern wird. Wir wählen stattdessen das „kleinere Übel“. Durch die Wechselwirkung des strategische Wählens und die Wahlprognosen ergibt sich eine Dynamik, bei der Parteien unter der Sperrklausel es besonders schwer haben, Stimmen zu bekommen.
Das Wahlsystem besitzt eine Status Quo Bias, durch die im Extremfall akkurater Wahlprognosen (ohne Unischerheit oder systematischer Fehler) und rationaler Wähler (im Sinne der Rational Choice Theory), eine Partei unterhalb der Sperrklausel einen Fixpunkt bei 0% besitzt.
Wer setzt sich für eine Ersatzstimme ein?
Sowohl die Piratenpartei als auch die Initiative Mehr Demokratie setzen sich für eine Änderung des Wahlrechts ein. Da die aktuellen Prognosen den Piraten das scheitern an der 5% Hürde voraussagen ist eine Änderung des Wahlrechts jedoch unwahrscheinlich. Die Altparteien dürften kein Interesse an Ersatzstimmen besitzen.
Fazit
Durch eine Ersatzstimme sollte sich die problematische Eigendynamik von Sperrklausel und Wahlprognosen bekämpfen lassen, und dem Stimmverfall begegnet werden. Das Wählen wird allgemein attraktiver, da nun jeder aufrichtig die präferierte Partei wählen kann. Einige Kritiker weisen darauf hin, dass das (ebenfalls) im Grundgesetz verankerte Prinzip der Unmittelbarkeit der Wahl durch Ersatzstimmen verletzt wird. Es scheint, dass in jedem Fall ein Prinzip der Wahl verletzt wird. Was ist der zentralere Bestandteil einer demokratischen Wahl, dass sie unmittelbar ist, oder dass sie gleich ist? In meinem Verständnis ist vor allem relevant, dass die Präferenzen der Bürger wiedergespiegelt werden.
In den Sozialwissenschaften werden verschiedene Fragen wie diese im Rahmen der Sozialwahltheorie behandelt.
Von Michael Schilling