Lasst Ideen sterben, nicht Menschen!
Es war der 15. Juni 1919 als der Junge die Welt mit anderen Augen zu sehen begann. In den Jahren zuvor hatte der Bürgerssohn sich, dem Zeitgeist des „Roten Wiens“ entsprechend, der Arbeiterbewegung immer weiter angenähert und war begeistert von ihrem idealistischen Streben einer besseren Welt gewesen. Es waren jene Wochen, die dem schicksalhaften Junitag vorangegangen waren, in denen er sich wohl gar als revolutionärer Kommunist bezeichnet hätte. Doch an jenem Tag hatte ihn die lokale Parteileitung mit seinen Freunden zur Polizeistation in die Hörlgasse geschickt. Dort waren mehrere Parteimitglieder inhaftiert und die 20 Jugendlichen sollten Druck machen, die Genossen idealerweise befreien. Naive Ideen, der Junge war wie seine Freunde unbewaffnet. Doch als die Jungkommunisten ins Gebäude einzudringen versuchten, eröffneten die Polizisten das Feuer. Er blieb unverletzt, 8 seiner Begleiter starben an jenem Tag einen unnötigen und blutigen Tod.
Unser 17-Jähriger aus gutem Hause ist niemand anderer als der Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Karl Popper. Er war schockiert vom brutalen Vorgehen der Polizei, doch nicht minder schockierte ihn, dass die kommunistische Partei wissentlich unerfahrene Menschen in eine derartig gefährliche Situation gebracht hatte. Die Genossen hatten den Idealismus und die Naivität der Jugend ausgenutzt und Poppers Freunde mussten dies mit ihrem Leben bezahlen. Und wofür? Für eine Idee. Für das größere Wohl, für die klassenlose Gesellschaft, für den Kommunismus. Doch sollte der Preis einer politischen Überzeugung wirklich das Leben von Menschen sein? Konnte Verheißung einer besseren Welt den Tod rechtfertigen?
Die Geschichte liefert uns mannigfaltige Beispiele von Gesellschaften, die Ideen über Menschen stell(t)en und die Fragen, die Popper in der Folge jener schrecklichen Erfahrung stellte, wirken wie ein antithetisches Präludium jener Ära der Extreme, welcher von der Oktoberrevolution 1917 bis zum Fall der Berlin Mauer 1989 reichte. Wie viele traten in jenen Jahren an das Paradies auf Erden zu schaffen, hießen sie nun Lenin, Stalin, Hitler, Mao, Kim oder Pol Pot? Und wie viele Menschen mussten diesen ideologischen Wahn, das quasireligiös-eschatologische Streben nach der dem Himmel auf Erden im Sinne der eigenen Weltanschauung mit ihrem Leben bezahlen?
Diese kollektivistisch-holistischen Gesellschaften sind mit der prominenten Ausnahme der faschistoiden Theokratien des Nahen Ostens und des grausamen Operettenstaates Nordkorea heute von der Landkarte verschwunden. Als „Sieger“ sind die demokratischen Staaten der westlichen Welt aus dem 20. Jahrhundert hervorgegangen. Diese Staaten sind, zumindest in der Theorie, Verkörperungen des Ideals der „Offenen Gesellschaft“, wie Popper sie in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ beschreibt: Im Gegensatz zu den ideologisch festgelegten „Geschlossenen Gesellschaften“ ist in ihnen der freie und intellektuelle Meinungsaustausch möglich und wird durch die Staatsgewalt garantiert. Die offene Gesellschaft muss sich ändern und anpassen können. Daher sind Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit sowie eine strikte religiöse Neutralität von grundlegender Bedeutung für sie. Institutionen sind zwar unumgänglich, müssen sich in Offenen Gesellschaften aber einer ständigen Kritik stellen und stets verbessert werden können. Der Nationalstaat ist ein momentanes Übel, das langfristig überwunden werden kann. Er soll eine ausreichende Grundversorgung sichern, vor allem aber eine egalitäre Gesellschaftsstruktur ohne die Herrschaft von abgeschlossenen Eliten ermöglichen. Popper schlägt als Maxime statt der Maximierung des Glücks die bescheidenere Minimierung des Leidens vor.
Wir als Säkulare Humanisten sagen auf dieser Grundlage und mit Churchill ganz eindeutig: Die demokratisch verfasste, offene Gesellschaft ist die schlechteste Gesellschaftsform von allen, neben all jenen, die wir sonst bereits ausprobiert haben.
Gleichzeitig erkennen wir jedoch, dass der Status Quo der entwickelten westlichen Demokratien gegenwärtig nicht ideal ist. Teilweise ist eine Entwicklung zu sogenannten Postdemokratien auszumachen: Geheimdienste untergraben Grundrechte und demokratisch legitimierte Kontrollgremien, Volksparteien erodieren und entwickeln sich zu einer einzigen, amorphen Masse, die nicht mehr gestaltet, sondern verwaltet, was vorallem in Anbetracht des massiven Impacts des technologischen Fortschrittes in den nächsten Jahrzehnten fatal ist. In dieser Situation stellt uns zudem die Globalisierung mit ihrer Transnationalisierung der Wirtschaftsaktivitäten und Kapitalflüsse vor neue Herausforderungen, welche die Rolle des demokratischen Staates zusätzlich signifikant reduzieren. Plutokraten bestimmen dabei zunehmend über politische Agenden, wohingegen der Wähler entmündigt wird. Unser Wirtschaftssystem zeigt Charakteristika eines komplexen dynamischen Systems und ist damit inhärent instabil und krisenanfällig, Regulierungen sind jedoch durch mangelnde politische Einigkeit auf globaler Ebene kaum möglich. Und zu guter Letzt gibt es nach wie vor radikale Gruppen und Ideologien, welche der offenen Gesellschaft selbst den Krieg erklärt haben. Diskursive Zwänge erschweren jedoch eine ernstzunehmende Debatte über dieses Problem und schwächen durch Toleranz gegenüber der Intoleranz die Grundfesten und Fundamente, auf denen die offene Gesellschaft ruht.
Die Probleme sind also mannigfaltig. „Mögest du in interessanten Zeiten leben“ lautet ein alter Fluch und selten traf er wohl so gut zu, wie für den Anbeginn des 21. Jahrhunderts. Wir stehen an einer Schwelle zu einer neuen Zeit, vieles, was bisher ein Fundament unseres Zusammenlebens war, hat sich unter den geänderten Vorzeichen der Gegenwart als dysfunktional erwiesen. Es gilt nun, die Ideale der Offenen Gesellschaft in eine globalisierte, ultrakomplexe und multipolare Welt zu übertragen, in der die Souveränität des Nationalstaates nur noch eingeschränkt besteht und eine Vielzahl transnationaler Akteure miteinander interagiert, kooperiert und konkurriert. Kann dies gelingen? Wir wissen es nicht. Konzepte müssen entwickelt und erprobt, Theorien empirisch überprüft, supranationale Konstrukte wie die EU demokratisiert werden. Es gibt viel zu gewinnen, wenn es gelingen mag und noch viel mehr zu verlieren, falls nicht.
Willkommen in der Gegenwart.