Secular Winter Solstice

In der längsten und dunkelsten Nacht des Jahres feiern wir die Secular Winter Solstice, die Wintersonnenwende. Wir konfrontieren die Dunkelheit. Wir blicken in ein wunderschönes und zugleich kaltes und gleichgültiges Universum, in dem wir nur ein winziger blassblauer Fleck sind. Wir denken an die Herausforderungen, mit denen die Menschheit von je her kämpfen musste, und denen sie sich in der Zukunft noch stellen muss. Aber wir feiern auch die Gemeinschaft, den Zusammenhalt und die Wärme, die wir uns gegenseitig als Menschen bringen könne. „There is light in the world, and it is us.“

Die Wintersonnenwende (oder auch Mittwinter) bezeichnet den Tag, an dem die Sonne die geringste Mittagshöhe über dem Horizont erreicht, an dem der Tag am kürzesten und die Nacht am längsten ist. Auf der Nordhalbkugel ist dies die Nacht des 21. Dezember. Mindestens seit der Antike, vielleicht auch schon im Neolithikum, war die Wintersonnenwende ein wichtiges Fest, das sich in den folgenden Jahrhunderten zahlreichen Kulturen in verschiedener Form manifestierte.

Wir wollen hier ausführen, wie wir diese Mittwinterfeier für uns gestalten und zelebrieren können, um damit humanistische Werte und Ideale zu feiern – ganz ohne jeden esoterischen Aberglauben, aber mit gebührendem Respekt vor dem Universum und Begeisterung für die Errungenschaften der Menschheit. Wir entwickeln dabei säkulare Rituale, Lieder, Geschichten und Texte, die durchaus dazu gedacht sind, eine besondere Athmosphäre und Stimmung bei denen zu erwecken, die sich darauf einlassen. Natürlich ist uns bewusst, dass nicht jeder an solchen Inhalten Freude hat und sie vielleicht dem einen oder anderen zu seltsam oder sogar kultisch vorkommen mögen. Das ist vollkommen in Ordnung – die Feiern sind für jene, die Lust darauf haben, und jeder kann für sich selbst die Elemente übernehmen, die ihm gefallen, und andere anpassen, weglassen oder auch Neues hinzufügen. Die folgenden Elemente mögen nur als Anregung dienen, wie eine solche humanistische Wintersonnenwende aussehen könnte.

Natürlich erinnern viele der Elemente auch an Weihnachten (Kerzenlicht, Geschenke, Plätzchen…). Das ist durchaus beabsichtigt – wir wollen schöne Elemente des winterlichen Festes genießen und mit einem besseren und fortschrittlicheren Sinn erfüllen.

Mythologischer und kultureller Hintergrund

Die Wintersonnenwende war als astronomisches Ereignis schon vor langer Zeit von enormer Bedeutung für die Menschheit. Das Überleben in langen, kalten Wintern hing maßgeblich davon ab, genug Vorräte einzulagern und diese zu rationieren, und der Stand der Himmelskörper ermöglichte die kalendarische Einteilung des Winters. Das Mittwinterfest war häufig der Zeitpunkt, an dem Tiere geschlachtet wurden, damit sie im Winter nicht gefüttert werden mussten, und damit die letzte große Gelegenheit für ein Festmahl vor den langen Wintermonaten. Auch Wein und Bier waren zu dieser Zeit fertig gegoren und konnten getrunken werden.

Die Nacht markiert, wie der Name schon sagt, einen markanten Wendepunkt, denn von nun an wurden die Tage wieder länger, die Sonne erstarkte und würde irgendwann mit ihrer Kraft den Frühling zurückbringen. Damit symbolisiert die Wintersonnenwende auch eine Hoffnung auf ein Ende der langen Dunkelheit und Kälte. Aus diesem Grund verbinden viele Feiertage die Wintersonnenwende mit der Geburt oder Wiedergeburt einer Sonnengottheit.

Im skandinavischen und germanischen Kulturkreis in Nordeuropa wurde ein zwölftätiges Mittwinter-Fest gefeiert, dass den Namen Yule oder Julfest trug und vermutlich den Ursprung einiger moderner Weihnachtstraditionen birgt, darunter der Weihnachtsbaum und der Adventskranz. Zu diesem Fest wurde die Wiedergeburt der Natur nach dem Tod in der Kälte des Winters gefeiert und mit Opfergaben zelebriert.

Unter dem römischen Kaiser Aurelian wurde Sol Invictus, die unbesiegbare Sonne, als römischer Gott übernommen und sein heiliges Fest am 25. Dezember begangen. Die christliche Tradition und das Datum des Weihnachtsfestes könnten auf dieses Fest zurückgehen.

Die humanistische Wintersonnenwende

Zur Wintersonnenwende richten wir unsere Aufmerksamkeit hinaus zu den Sternen. Wir vergegenwärtigen uns, wie winzig klein unser Planet Erde im Vergleich zur unendlichen Weite des Universeums ist. Es gibt keinen Gott dort draußen, der auf uns acht gibt, keine gute Macht, die uns beschützt – in dieser Hinsicht sind wir gänzlich allein. Wenn die ganze Menschheit schreckliches Leid erdulden müsste oder ausgelöscht würde, so würden die Sterne weiter funkeln, kühl und gleichgültig, schön und vollkommen indifferent. Das Weltall kümmert sich nicht um unser Streben, und unser Leben ist nur ein winziges Aufflackern in den unbegreiflichen Dimensionen kosmischer Zeit.

Wir sind sterblich. Der Tod könnte jeden von uns zu jeder Zeit ereilen, und alles auslöschen, was uns ausmacht, jede Erinnerung und jede Hoffnung, die wir jemals in uns trugen. Und noch gibt es nichts, das wir dagegen tun können.

Es gibt keinen tieferen Sinn, zu dessen Zweck unsere Existenz begründet wurde. Weder unser Glück noch unser Leid folgen irgendeinem Plan, und jederzeit können uns furchtbare Dinge zustoßen, ob wir sie verdienen oder nicht.

Doch wir sind nicht allein. Als Menschheit drängen wir in gemeinschaftlicher Anstrengung die Dunkelheit zurück und kämpfen gegen die Gefahren, die uns umgeben. Wir schaffen uns Schutz, Licht, Nahrung und Wärme, und das ohne jede Hilfe von höheren Mächten, sondern ganz allein durch unsere Klugheit, unseren Tatendrang, unseren Willen zum Überleben. Vor wenigen hundert Jahren noch lebten wir in kleinen Hütten aus Holz und blickten frierend hinauf zu den Sternen – heute schützen uns die Errungenschaften der Zivilisation vor der Bitterkeit des Winters, und Satelliten ziehen am Nachthimmel entlang. Wir haben uns eine warme und geschützte Zuflucht geschaffen, einen Raum, in dem das Leben ein bisschen sicherer und lebenswerter geworden ist.

Uns wird nichts geschenkt, kein gütiger Vater oder weises Prinzip wacht über uns und beschützt uns. Es gibt keine Gerechtigkeit in den Naturgesetzen, keine Freundlichkeit in der Bewegung der Planeten. Das Universum und alle Sterne sind weder gut noch böse, ihnen ist alles egal.

Aber uns ist nicht alles egal. Wir als Menschen können Wundervolles erreichen, und auch wenn nichts sonst im Universum über uns wacht, können wir uns gegenseitig beschützen. Es gibt Licht in der Welt – wir sind es!

Was braucht man für eine Winter Solstice?

Teilnehmer: Eine Gruppe Menschen, die gemeinsam eine Winter Solstice erschaffen wollen. Natürlich werden immer einige Teilnehmer mehr beitragen und andere sich eher im Hintergrund halten. Es ist jedoch stark zu befürworten, dass jeder sich zumindest ein klein wenig einbringt – mit einem Lied, einem Gedicht, einem Vortrag, einer Geschichte, einem musikalischen Beitrag, oder notfalls auch nur mit einem Beitrag zum Abendessen. Die Feier sollte von allen für alle geschaffen werden.

Geschenke: Im Vorfeld werden die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip einander zugeordnet, sodass jeder weiß, wen er beschenken darf – aber nicht, von wem sein Geschenk stammt. Geschenke sollten klein und nicht teuer, aber aufmerksam sein. Ein Organisator kann es übernehmen, auf geheimen Weg Tipps und Wünsche an die Schenkenden weiterzugeben. Die Geschenke werden verpackt und im dritten Akt der Feier ausgepackt.

Essen und Trinken: Klassische winterliche Getränke wie Glühwein, Punsch (auch alkoholfrei), heiße Schokolade und heißer Orangen- oder Apfelsaft mit Zimt passen besonders gut. Oder vielleicht ein White Chocolate Snowflake Martini?
Zum Essen sollten bei Ankunft der Teilnehmer einige Happen bereitstehen, damit niemand hungrig die Zeremonie durchstehen muss. Nach der Feier steht jedoch das wirklich große Festessen an. Wichtig ist, dass für jeden etwas Leckeres dabei ist – am besten sollten die Ernährungpräferenzen der Teilnehmer vorher erfragt werden (vegan? keto? glutenfrei?). Typischer Elemente der winterlichen Küche können aufgegriffen werden, wie Esskastanien, Rotkohl, Klöße, Nüsse, Wurzelgemüse… aber auch ganz andere Geschmacksrichtungen sind möglich. Ein paar Beispiele (weitere werden bei Gelegenheit ergänzt):

Dekoration: Winterlicher Schmuck bietet sich an. Tannen-, Fichten- und Kiefernzweige, Zapfen und ähnliche Naturmaterialien erinnern an verschneite Wälder. Dekorationen mit Schnee-Motiven, wie beispielsweise Schneeblumen am Fenster, weiße Watte in Regalen oder auf Tischen, und kleine Wattekugeln als herabhänge Dekoration, passen ebenfalls gut. Kränze oder sogar ein (Weihnachts-) Baum können ebenfalls verwendet werden. Besonders wichtig sind Lichterketten, Kerzen, Lampen und Teelichter sowie elektronische Teelichter, idealerweise solche, die mit einer Fernbedienung gesteuert werden können, um sie im dritten Akt der Feier zu entzünden.

Hintergrundmusik: Ein Lagerfeuer-Video, ein Album klassischer Musik oder eine schöne Youtube-Playlist wie beispielsweise diese. Oder man hört Tim Minchins „White Wine in the Sun„, ein alternatives Weihnachtslied.

Spiele: Nach dem Festmahl können Spiele (sowohl elektronisch als auch Brett-, Würfel und Kartenspiele) den geselligen Abend füllen.

Der Ablauf der Winter Solstice

Die Feier folgt einem emotionalen Spannungsbogen, einem „Arc“, der von Dunkelheit, Nachdenklichkeit und Traurigkeit hin zu Licht und Hoffnung auf die Menschheit führt. Wir schaffen uns selbst ein Ritual, das uns Freude, Gemeinschaftsgefühl und eine feierliche Athmosphäre gibt.

Zur Feier gehören Lieder, die gemeinsam gesungen werden, Geschichten, die erzählt, und Texte, die vorgetragen werden. Auch Gedichte, Videos oder kleine Workshops sind möglich. Am besten sollte jeder einen Teil zur Feier beitragen – mit einem eigenen inhaltlichen Beitrag, oder vielleicht auch durch begeisterte Mitwirkung beim Singen oder Musizieren. Außerdem werden Geschenke verschenkt (in einem geheimen „Wichteln“) und es gibt ein reichhaltiges Festessen.

Der folgende Ablauf ist ein beispielhafter Plan für die Winter Solstice. Er dauert etwa eineinhalb bis zwei Stunden.

Halbdunkel

Wenn alle in Ruhe am Ort der Feier angekommen sind, werden die Lichter gedimmt. Kerzen oder Lichterketten sowie einige kleinere Lampen erhellen den Raum. Es wird etwas ruhiger.

  • Den Anfang macht der erste Teil der Geschichte „Die Längste Nacht„, vorgetragen mit athmosphärischer Untermalung.
  • Dann werden gemeinsam einige einfache Lieder gesungen, beispielsweise bekannte Weihnachtslieder (ohne religiösen Ballast).
    • Guten Abend, schön Abend
    • Sind die Lichter angezündet
    • Es ist für uns eine Zeit angekommen
    • Fröhliche Weihnacht (mit leichter Umdichtung)
    • Tausend Sterne sind ein Dom
    • Oh Tannenbaum
  • Wir hören Vorträge oder Texte über die mythologischen Hintergründe und die Vergangenheit der Winter Solstice, zum Beispiel

Dunkel

Die Lichter werden weiter gelöscht, bis es fast ganz dunkel ist. Es wird noch stiller. Wir fokussieren uns auf die Sterblichkeit der Menschheit und die Dunkelheit des Universums. Wir hören Vorträge und Texte, die von den Schwierigkeiten berichten, die wir überwunden haben, und die vielen Hindernissen und Gefahren, die uns noch bevorstehen. Wir denken an diejenigen, die wir verloren haben, und an unsere eigene Insignifikanz in den Weiten des Universums.

Dann werden alle Lichter gelöscht, und es ist für eine Weile vollkommen dunkel und still. Die ist der intensivste Moment der gesamten Feier. Jeder hält eine Kerze, und alle warten darauf, dass das Licht zurückkehrt. Nach etwa zwei bis drei Minuten wird eine Kerze angezündet, und ihr Licht an den nächsten weitergegeben. Nach und nach verbreitet sich das Licht im Raum.

Licht

Alle Kerzen werden entzündet, alle Lichter flammen auf. Wir zelebrieren die Hoffnung der Menschheit auf eine bessere Zukunft. Alles glitzert und funkelt und wir fassen neuen Mut.

Jetzt ist es an der Zeit, die Geschenke auszutauschen. Alle freuen sich über das, was sie bekommen haben, und über die tolle Gemeinschaft, die wir gemeinsam bilden. Nun ist es an der Zeit für das große Festmahl!

Tipps und Hinweise zur Umsetzung

Es sollte auf jeden Fall von Anfang an allen klar sein, wie ernst oder auch wie locker die Feier ablaufen soll. Eine Feier, die ernster und tiefgründiger ist als erwartet, könnte fremdartig und sogar abschreckend wirken, während andersherum zu leichtfertige, gedankenlose Teilnehmer die Stimmung für die anderen beeinträchtigen können. Daher sollten sich von vornherein alle über die geplante Athmosphäre im Klaren sein.

Manche Menschen singen nicht gerne, vor allem nicht wenn andere dabei sind. Wir ermutigen auf jeden Fall, über den eigenen Schatten zu springen – es muss nicht schön klingen, der gute Wille ist, was zählt! Eine Möglichkeit für solche Menschen ist, entweder zu summen oder ein kleines Instrument, wie beispielsweise ein Tamburin, zu spielen und somit ein Teil der gemeinsamen Musik zu sein. Niemand sollte sich jedoch über Gebühr gezwungen fühlen.

Kleine Kinder und Haustiere sollten beim ernsthaften Teil des „Arcs“ nicht anwesend sein, um den Ablauf nicht zu unterbrechen.

Damit es wirklich vollkommen dunkel wird, sollte man darauf achten, eventuelle kleine elektronische Lichter (wie beispielsweise die Schalter von Steckdosenleisten oder die Statusanzeigen von Stereoanlagen) zu überkleben oder anderweitig zu verdecken. Auch Vorhänge helfen gegen „Lichtverschmutzung“ von draußen.

Eine ungefährliche Alternative zu Kerzen bieten elektronische Teelichter – vor allem in der Nähe von trockenen Fichtenzweigen.

Es bietet sich an, am Veranstaltungsort eine Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung zu stellen!

Quellen, Inspirationen und weiterführende Überlegungen

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Viele unserer Ideen für die Winter Solstice sind aus der Rationality-Community (LessWrong) übernommen.

“It is tradition, in the community of those who seek to become more rational, to gather one night of each year, and sing. We do this close to the winter solstice, which is the longest, darkest night of the year; and, gathered as a community, we stare into and confront the darkness. This consists of participatory singing and a few short speeches, following an emotional arc from light to darkness and back to light again.”

Einige Artikel, die sich mit den Secular Winter Solstices in der Rationality-Community beschäftigen:

Weitere inspirierende Texte:

Impressionen unserer Winter Solstice

Die SHBH Berlin feiert die Winter Solstice seit 2015 jährlich mit etwa 10-14 Teilnehmern.