Die Längste Nacht

Geschichte zur Winter Solstice

Teil 1

Die Sonne versank früh hinter den westlichen Hügeln. Sie verschwand im Reich des Winterkönigs, hinter der Hügelkette und dem kristallenen Fluss, dem kalten Land, in dem der Schnee niemals schmilzt. Den Menschen war es verboten, einen Fuß in das Reich des Winterkönigs zu setzen. Dort ging er auf die Jagd, von dort brachte er Schnee und Kälte, und da er das kalte Licht des Mondes und der Sterne der Sonne vorzog, nahm er mehr und mehr von der Kraft der Sonne hinfort. So wurden auch in den Ländern der Menschen die Tage kürzer und die Nächte länger, und die kraftlose Sonne erhob sich bald nur noch wenige Stunden ein kleines Stück über den Horizont, ehe sie wieder verschwand.

Die Menschen lebten in kleinen, weit verstreuten Hütten, die sich zum Schutz vor dem Wetter unter dunkle Fichten duckten. Es gab wenig zu essen: Im gefrorenen Boden wollte nichts wachsen, und es blieb immer weniger Licht für die Jagd oder die Suche nach Nahrung. Die Menschen misstrauten einander, und je dunkler die Tage wurden, desto dunkler wurden auch ihre Gedanken. Einige waren so hungrig, dass sie zu stehlen begannen. Daraufhin begannen andere, jeden zu vertreiben, der sich ihrem Haus näherte.

Eines Tages hatte ein Jäger Glück, und es gelang ihm, einen der letzte Eber zu erlegen. Nun musste er nicht mehr hungern. Er briet das Fleisch, und der Duft ließ die anderen Menschen neidisch werden. Das wusste auch der Jäger. Aus Angst vor Dieben lagerte er das Fleisch nicht draußen in der eisigen Kälte, sondern drinnen in seiner Kammer, und in der Wärme vor dem Kaminfeuer verdarb es. In dieser Nacht schlichen finstere Gestalten um herbei, langgliedrig, mager und in dunkle Tücher gehüllt. Lautlos zogen sie ihre Kreise um das Haus, begleitet von einem Geruch nach Verfall und Verderben, denn sie waren weder Mensch noch Tier, sondern Wendigos, und sie zehrten von der Angst und dem Misstrauen des Jägers, der keinen Schlaf finden konnte.

Es war spät am Vormittag, als am nächsten Tag endlich eine fahle Sonne aufging. Nahe der Grenze zum Reich des Winterkönigs lebten auch die Kinder eines Kürschners. Im letzten Winter war der Kürschner im Wald von einer gehörnten Bestie getötet worden. Also sorgte die Tochter, deren Name Miryem war und die selbst kaum erwachsen war, für ihren kleinen Bruder Stepon. An diesem Tag machte sie sich auf den Weg zum Kerzenzieher, um Pelze gegen Kerzen einzutauschen. Doch der Kerzenzieher verlangte mehr, als sie ihm geben konnte, und sie musste unverrichteter Dinge nach Hause zurückkehren. Am Abend versuchte sie, im schwachen Licht eines Kiefernspans die Pelze zu Handschuhen zu nähen, um einen besseren Preis zu erhalten. Als der kalte Wind draußen um die Fenster heulte, glaubte sie finstere Stimmen darin zu hören, lockend und gierig. Doch sie zog Stepon zu sich und sagte: “Hör nicht auf die bösen Geister, die mit dem Winter kommen!”, und sang ihm ein Kinderlied, und noch eines und noch eines, bis er eingeschlafen war und sie nur noch den Wind hörte.

Im Haus des Müllers und der Müllerin gab es Streit, denn es gab außer Mehl kaum noch etwas zu essen und auch das Korn war knapp. Der Müller belud seinen Schlitten mit den letzten Säcken Mehl, spannte das Pferd davor und machte sich auf den Weg zum Haus der Bäcker. Auf halbem Weg stolperte das Pferd, das von Hunger geschwächt war, über einen Ast, und eine Kufe des Schlittens brach. Der Müller fluchte laut. Das hörte der Schmied, der in der Nähe des Weges wohnte, und er kam zu ihm und half ihm, den Schlitten zu reparieren. Der Müller dankte ihm und setzte seinen Weg fort.

Doch als der Müller in seinen Mantel gewickelt auf dem Schlitten saß und die Schatten um ihn herum bereits länger wurden, kamen ihm düstere Gedanken. Was würde der Schmied nun als Bezahlung für seine Hilfe von ihm verlangen? Als er vom Haus der Bäcker zurückkehrte, wurde es dunkel. Der Müller grübelte über die Schuld, die er auf sich geladen hatte. Was würde der Schmied von ihm fordern? Der Gedanke lastete schwer auf ihm. Im Schatten der hereinbrechenden Nacht verfolgten hagere Gestalten, gehüllt in dunkle Fetzen, den Schlitten des Müllers. Egal wie schnell das Pferd über den verschneiten Weg trabte, sie hielten mühelos Schritt. Und als der Müller am Haus des Schmiedes vorbei kam, da ging er hin und erschlug ihn, damit er nicht seine Schuld einfordern konnte. Und die Wendigos leckten über ihre spitzen Zähne. 

Im Haus der Kürschnerskinder gab es nichts mehr zu essen. Also sagte Meryem zu ihrem Bruder: “Ich werde in den Wald gehen und sehen, ob ich ein Tier oder ein paar Beeren finden kann.” Und ihr Bruder sagte: “Nimm dies, und komm schnell zurück”, und gab ihr sein Halstuch gegen die Kälte. Also machte Meryem sich auf den Weg. Doch im Wald war alles erfroren, keine Beeren und Pilze waren mehr übrig. Auch Wurzeln konnte sie keine ausgraben, denn der Boden war hart wie Stein. Und kein einziges Tier lebte noch. Als es fast dunkel wurde, kam Meryem zum Ufer des kristallenen Flusses. Der Fluss war von Eis bedeckt, nur in der Mitte floss noch ein dunkler Strom. Meryem blickte auf die andere Seite, wo das Reich des Winterkönigs begann. Es hieß, der Winterkönig jagte nur die Geister der Tiere, die bereits tot waren. Und doch durfte kein Mensch sein Reich betreten, um lebende Beute zu finden, oder er würde von seinem kalten Hauch zu Eis verwandelt.

Da hörte sie plötzlich ein furchtbares Brüllen, das ihr die Haare zu Berge stehen ließ. Und als sie zu den Klippen auf der anderen Seite des Flusses blickte, da erschien dort ein Reh aus dem Wald, das gehetzt wurde von einer gehörnten Bestie. Größer als ein Bär, mit scharfen Klauen, einem zotteligen Fell wie ein Eber, einem mächtigen Geweih und furchterregenden Hauern. Als Meryem die Bestie erblickte, gefror ihr Herz vor Angst zu Eis, wie es noch nie zuvor geschehen war, und sie konnte sich nicht rühren. Sie fühlte sich, als starre sie dem Tod selbst ins Gesicht. Das Reh jedoch suchte voll blinder Panik dem gehörten Wesen zu entkommen und stürzte sich geradewegs über die Klippe in den Fluss. Da wandte sich die Bestie um und ging langsam zurück in den Wald. Und erst als sie lange verschwunden war, legte sich die Furcht in Meryem langsam.

Das Reh trieb unterdessen leblos im Wasser und hatte sich in einigen Ästen verfangen. Meryem wusste, dass der Fluss eisig kalt war, doch sie wusste auch, dass ihr Bruder nichts zu essen hatte. Und der Hunger biss schlimmer als die Kälte. Also zog sie ihre Kleidung aus und stieg mutig in den kalten Fluss, wo sie das tote Reh aus dem Geäst zog und nach Hause brachte. Zum ersten Mal seit Langem wurden die Kürschnerskinder satt.

Am nächsten Tag erwachte Meryem, doch draußen war es dunkel. Es schien, als wolle die Sonne gar nicht aufgeben. Erst spät am Tag hob sich eine blasse Scheibe über den Horizont.

Die Menschen, die einander fürchteten, fürchteten die Dunkelheit noch mehr, und sie standen beisammen und sprachen über die verschwindende Sonne. Als sie von Meryems Tat hörten, waren sie wütend, dass sie in den Fluss gestiegen war. “Sie hat den Winterkönig erzürnt, weil sie seine Grenze übertreten hat! Sie hat das Unheil über uns gebracht! Nun wird die Sonne bald nie wieder aufgehen!”

Und als sie so zueinander sprachen, da gingen zwischen ihnen auch hagere Gestalten umher, die niemand kannte und niemand richtig sehen konnte, und sie waren gehüllt in dunkle Fetzen. Und sie flüsterten und entblößten ihre spitzen Zähne in einem falschen Lächeln. “Der Winterkönig verlangt ein Opfer”, sagten die Menschen. Doch sie wollten das Opfer nicht selbst erbringen. Jeder wünschte, ein anderer solle es auf sich nehmen. Also holten sie Meryem, fesselten sie und hoben sie auf den Schlitten des Müllers.

Meryem kämpfte nicht gegen sie, aber sie blickte ihnen in die Augen, und sie sagte: “Wer von euch wird sich um meinen Bruder kümmern? Wohin soll Stepon gehen?” Und die Bäckerin fasste sich ein Herz und sprach: “Sei unbesorgt. Bei uns wird er bleiben können.”

Und Meryem dankte ihr. Doch mehr blieb ihr nicht, denn schon wurde es dunkel, und die ängstlichen und zornigen Leute drängten zum Aufbruch, und so brachten sie Meryem fort in den Wald zu den westlichen Hügeln. Die Stille des Waldes klang wie das Schweigen der Menschen, die Meryem bis zur Grenze der Menschenlande führten, und einige Schritte darüber hinaus in das Reich des Winterkönigs.

Dort fesselten sie Meryem an einen Baum und eilten sogleich furchtsam wieder zurück in die Sterbliche Welt, denn wen der Winterkönig fand, der ohne Erlaubnis sein Land betreten hatte, dann tötete er ihn mit seinem eisigen Hauch. 

“Wenn sie morgen erfroren ist, so hat er unser Opfer angenommen, und dann wird er besänftigt sein und die Sonne wiederkehren lassen”, sagten die Menschen sich, und sie beeilten sich, zurück zu ihren Hütten zu kehren. Doch ihre verriegelten Türen waren kein Hindernis für die Wendigos, die den Geruch von Tod in ihre Träume brachten.

Im Wald des Winterkönigs begann die Kälte, an Meryems Kräften zu zehren. Die Wendigos umschlichen sie, und Meryem konnte ihre ausgezehrten Gesichter sehen, die graue Haut, die sich über ihre kantigen Schädel spannte, und sie hörte ein hungriges Wispern, von Verrat und Betrug und dem Unrecht, dass die Menschen ihr angetan hatten. Doch Meryem kümmerte sich nicht um ihre Worte. 

“Ich will keine Rache”, sagte sie ihnen. “Ich will, dass die Sonne erstarkt und die Menschen Nahrung finden.”

Und sie dachte an ihren Bruder. Also ließen die Wendigos enttäuscht von ihr ab und zogen sich zurück. Und Meryem wartete auf den Winterkönig.

Teil 2

Dann erfüllte ein silbriges Glitzern den Wald, und ein Duft wie von frischem Schnee wehte den Totenhauch der Wendigos davon. Der Winterkönig erschien. Als Meryem ihn sah, vergaß sie für einen Moment jede Furcht und betrachtete ihn voller Neugier. Sein Gewand war aus filigranen silbrigen Fäden gesponnen, in denen sich das Licht des Mondes brach wie auf feinsten Eiskristallen. Seine Krone aus Kristall war so ebenmäßig und perfekt geformt, wie keine menschliche Hand es vollbringen könnte. Und in seinen Augen, die die Farbe des Nachthimmels hatten, schimmerte die kühle Unendlichkeit der Sterne. 

Der Winterkönig streckte seine Hand nach Meryem aus, um ihr Leben für sich zu verlangen. Doch Meryem hob stolz ihr Kinn und sah ihm fest in die Augen.

“Du hast kein Recht auf mich. Ich habe dein Reich nicht betreten, nur den Fluss. Du kannst mich nicht als dein Opfer nehmen.”

Der Winterkönig hielt inne und betrachtete sie. Sein Gesicht war ohne Regung, es lag weder Mitleid noch Grausamkeit darin. “Du sprichst die Wahrheit”, sagte er einfach.

“Dann lass mich gehen, und bring die Sonne zurück, die du den Menschen vorenthälst!”, forderte Meryem.

“Deine Worte sind kühn”, sagte der Winterkönig. “Ich schulde dir keine Gefallen. Im Licht der Sterne gehe ich auf die Jagd nach den Tieren, die in meinem Land gestorben sind und mir zustehen. Aus ihnen werde ich mir ein großes Festmahl bereiten. Aber ich biete dir ein Abkommen an. Wenn du es schaffst, drei Kreaturen für mich zu überwinden, dann werde ich dich zur Königin des Schnees machen, und nie mehr sollst du frieren. Und wenn ich mein Fest feiere, dann sollst du an meiner Tafel mit mir speisen, und danach werde ich die Sonne zurückkehren lassen. Wenn du aber versagst, dann werde ich dich als Opfer beanspruchen.”

“So sei es”, sagte Meryem. Und der Winterkönig löste ihre Fesseln und gab ihr ein kleines Messer aus purem Eis, scharf wie Glas, denn Meryem hatte weder Bogen noch Speer bei sich.

“Drei Kreaturen sollst du für mich bezwingen”, sprach der Winterkönig. “Ein Reh, einen Wolf, und die gehörnte Bestie.” 

Meryem wusste, dass sie wenig Hoffnung hatte, die Aufgabe zu erfüllen. Doch die Gleichgültigkeit des Winterkönigs erfüllte sie mit Zorn, der sie antrieb. Sie würde kein leichtes Opfer abgeben. Bis zum letzten Moment würde sie um ihr Überleben kämpfen.

Sie ging zum Fluss, wo sie totes Schilf fand, das sie mit dem Eismesser schnitt. Sie knüpfte eine Schlinge daraus und legte sie nahe einer Stelle aus, wo das Wasser noch nicht mit Eis überfroren war und Fährten von Tieren im Schnee verliefen. Dann wartete sie. Auch wenn die Kälte ihre Glieder steif werden ließ und der Hunger sie quälte, sie wartete geduldig, und nach einer langen Nacht verfing sich endlich ein Reh darin und sie konnte es töten. Meryem schnitt mit dem Eismesser das Fleisch und stärkte sich. Die besten Stücke jedoch ließ sie übrig.

Als Nächstes folgte sie den Spuren eines Wolfes, bis sie zu einer Höhle kam, in der er lebte. Vorsichtig legte sie das warme Fleisch vor die Höhle und wartete. Und nach einer Weile kam der Wolf, der mager und geschwächt vom Hunger war wie sie, und näherte sich vorsichtig und fraß das Fleisch.

Und dann kam er zu ihr, um mehr zu erbitten, und so zähmte sie ihn.

Mit dem dankbaren Wolf an ihrer Seite suchte Meryem die gefährlichste Bestie des Waldes, die gehörnte Kreatur. Ihr dunkles Fell war dicht und zottelig und ihre Haut dick. Ihre Hauer und Hörner konnten Meryem mühelos aufspießen, und von Weitem schon roch die Bestie Meryems warmes Blut. Sie brachte den Tod, doch Meryem wusste, dass sie auch sterben würde, wenn sie sich vor ihr versteckte. Also folgte sie der Fährte, auch wenn ihr vor Angst übel wurde, wenn sie nur an sie dachte. 

Die gehörnte Bestie konnte schneller laufen als Meryem, doch der Wolf war noch schneller als sie, denn er rannte wie der Winterwind. Und er hatte keine Angst vor der Kreatur. Er lockte die gehörnte Bestie auf den gefrorenen Fluss, und die schnaubende, geifernde Kreatur brach mit ihrem massigen Körper durch die Eisdecke und konnte sich nicht befreien. Selbst jetzt noch löste ihr bloßer Anblick kalte, unbezähmbare Angst in Meryem aus, doch sie stellte sich neben sie  auf das Eis.  

“Ich habe alle drei überwunden”, rief sie laut. “Das Reh ist getötet, der Wolf gezähmt, die gehörnte Bestie gefangen. Winterkönig! Der Pakt ist erfüllt!”

Der Winterkönig erschien und betrachtete Meryem. Er war verärgert, doch er nickte mit einem Anflug von Respekt in seinen sternenschillernden Augen.

“Du sprichst die Wahrheit”, sagte er kühl, “Auch wenn ich hoffte, du würdest alle drei Kreaturen für mich töten und in mein Reich bringen, damit ich sie für mein Festmahl jagen kann. Doch ich halte mein Wort, das du mir mit List abgerungen hast: Du wirst Königin des Schnees sein, wie ich es dir versprochen habe. Aber mein Festmahl kann ich nicht feiern, und ich werde weiter auf die Jagd gehen, und die Menschen werden weiter in Dunkelheit leben.”

“Warte”, sagte Meryem schnell. Sie suchte verzweifelt nach einem Weg, den Winterkönig umzustimmen, und die Bestie begann mit wachsender Kraft, das Eis zu zertrümmern, das sie gefangen hielt.

“Der Wolf hat mir geholfen, und ich werde ihm kein Leid zufügen. Aber ich töte die Bestie für dich, wenn du im Austausch dafür wenigstens die Wendigos zurückrufst, die die Menschen mit ihren furchtbaren Schatten plagen.”

Der Winterkönig sah zu ihr herab. “Menschenkind, du weißt nicht, wovon du sprichst. Die Wendigos stammen nicht von mir. Ihr selbst erzeugt sie in euren Herzen und tragt sie in mein Land. Ich habe keine Macht, sie zurückzurufen, und mein Winter schreckt sie nicht. Doch du, Mensch, versuche nicht mehr, mit mir zu feilschen, als seist du mir ebenbürtig. Ein einziges Mal habe ich dir einen Handel angeboten, und damit musst du dich begnügen. Komm – du sollst meine Königin sein, wie es dir versprochen wurde.”

Und so ging Meryem mit dem Winterkönig fort von dem Fluss, und ihre Haut wurde weiß, und sie spürte keine Kälte mehr. Er führte sie in das Land des Winters, einen schier endlosen verschneiten Wald. Fichtenstämme ragten um sie herum auf wie dunkle Säulen. Es war still bis auf das leise Knistern des Eises und das Rauschen des Windes in den Zweigen, und der Geruch nach frischem Schnee lag in der Luft. Das silberne Licht des Mondes brachte die Flocken zum Erstrahlen, und Meryem sah kristalline Fraktale, filigrane, tausendfach in sich selbst wiederholte Muster. Sie fügten sich zusammen zu einer weißglitzernden Decke, die sich auf jeden Zweig und jeden Stein legte, weich und unberührt, und ihre Schritte dämpfte. Meryem sah einen gefrorenen See, auf dessen glatter Oberfläche sich der Sternenhimmel spiegelte wie in den Augen des Winterkönigs, und für einen Moment fühlte sie sich, als würde sie in die Ewigkeit blicken.

Als sie die Hand hob, stieg ein kleiner Wirbel Flocken auf und folgte ihrer Bewegung. Sie dachte an Schnee, und einen Augenblick späte tanzten Eiskristalle um sie herum, gefolgt von dicken, weichen Flocken, die vom grauen Himmel fielen. Und so streifte sie als Schneekönigin durch das Land des Winters, frei über den Schnee zu herrschen und doch gefangen in seinen Grenzen. 

Im Land der Menschen begann ein dunkler Tag. Kaum jemand hatte noch etwas zu Essen, und viele froren. Und selbst die Bäcker, die noch etwas Mehl und Zucker hatten, besaßen nicht genug Felle und Decken, um sich zu wärmen. Kein Tier lebte mehr im Wald, zumindest nicht auf der Seite der Sterblichen. Nur in den Wäldern des Winterkönigs gab es noch Beute. Und da sie sonst keinen Ausweg wussten, gingen einige Menschen zu den westlichen Hügeln und machten sich auf die Suche nach Wild. Die Sonne erschien schließlich, doch schob sie sich nur ein kleines Stück empor und löste sich nie ganz vom Horizont. Nur ein ein paar Schritte wollten die Menschen in das Reich des Winterkönigs vordringen, um Wild zu suchen. Aber die Wege waren trügerisch, und bald hatten sie die Orientierung verloren und gingen unbemerkt immer tiefer und tiefer in sein Reich. Sie fingen einen Hasen oder zwei, ehe sie es bemerkten, und sie begannen zu streiten, welcher Weg der Richtige war. 

“Wären wir nicht dem Rat des Schusters gefolgt, wären wir jetzt nicht verloren im Wald!”, rief die Weberin. “Wärt ihr vorhin zur linken gegangen, wie ich es sagte, wären wir längst zurück!”, rief der Schuster. Sie merkten kaum, dass mehr unter ihnen waren, als gemeinsam aufgebrochen waren. Die hageren Wendigos verbargen ihr gieriges Lächeln nicht. Die Stimmen der Menschen  wurden lauter und zorniger. Ohne recht zu wissen warum, griff der Bäcker nach seiner Axt – da stand Meryem unter ihnen, schön und kühl wie Schnee.

Sie hatte den Streit gehört und war zu den Menschen geeilt. Als diese sie erblickten, wurden sie bleich. Sie glaubten an einen Geist, doch Meryem erklärte: “Ich bin nicht gestorben, doch bin ich gefangen im Reich des Winterkönigs. Ihr aber müsst schnell zurück. Er wird euch finden, und euch alle töten, weil ihr sein Land unerlaubt betreten habt.”

Sie wies ihnen den Weg und legte eine Decke aus pulvrigem Schnee über ihre Fährte, die jede Spur verdeckte. Dann ließ sie es in dicken Flocken schneien, sodass ihre Gestalten vor jedem Blick verhüllt waren. Als der Winterkönig erschien, konnte er sie nicht mehr ausmachen und ihrer Fährte nicht folgen. Er war zornig und überrascht von Meryems Tat.

“Wieder hast du mich überlistet”, sagte er, mit einem kühlen Hauch von Anerkennung. “Doch noch einmal wirst du dich nicht gegen mich wenden!” 

Er sperrte sie in ein Gefängnis aus Eis, und belegte sie mit einem Fluch. “Niemals wirst du dich befreien können, und keinem Menschen wirst du verraten können, wo du bist. Und die Sonne wird nicht zurückkehren, solange ich es nicht will, und die Menschen werden in Dunkelheit leben müssen. Dies ist dein Tun!”

Der Winterkönig sprach die Wahrheit. Die Sonne versank hinter den Hügeln, und sie blieb fort. Die Lande lagen in ewiger, tödlich kalter Nacht, und mit der Dunkelheit kam die Verzweiflung über die Menschen. Die Wendigos zogen Kreise um ihre Häuser, und kamen immer näher. Und den Menschen, die hungerten, kamen Gedanken, die zu dunkel waren, um sie jemals auszusprechen. 

Teil drei

Das Land des Winters und das Land der Menschen lag in Dunkelheit, und Meryem war eingeschlossen in einem Gefängnis aus Eis. Doch sie wusste, was die Wendigos aus den Menschen machen würden. Und obwohl die Menschen ihr Unrecht angetan hatten, konnte sie das nicht zulassen. Sie musste sich etwas einfallen lassen und den Winter ein weiteres Mal überlisten. 

Meryem dachte an Stepon, und da kam ihr eine Idee. Sie rief den Wolf, den sie gezähmt hatte, zu sich, und gab ihm das Halstuch ihres Bruders. Schnell wie der Winterwind eilte der Wolf dem Duft nach, bis er Stepon im Haus der Bäcker fand.

Der Bruder stieß einen Ruf der Freude aus, als er sah, dass der Wolf ihn zu Meryem führen würde. Im Licht der wenigen kleinen Kerzen, die sie noch hatten, beratschlagten sich der Bäcker und die Bäckerin, und dann liefen sie zum Müller, und der rief den Schuster, und dieser rief die Schneiderin, bis sich viele Menschen versammelt hatten. Und im Lichte und der Wärme der Kerzen, so klein sie auch waren, mussten die Wendigos zurückweichen. 

“Sie hat uns geholfen”, sagten sie. “Es ist Zeit, dass wir auch ihr helfen.”

“Doch wie sollen wir das tun? So tief im Land des Winters werden wir umkommen! Die gehörnte Bestie wird uns jagen, und selbst wenn wir ihr entrinnen können, werden wir erfrieren!”

Sie überlegten, was zu tun sei, und für einen Moment waren die dunklen Gedanken vergessen. Die Schneiderin lief heim und holte alle warme Mäntel, die sie finden konnte, der Schuster feste, warme Schuhe. Der Jäger brachte Speere, damit sie die Bestie abwehren konnten. Der Bäcker und die Bäckerin buken viele kleine Küchlein, damit alle sich unterwegs stärken konnten. Der Kerzenzieher brachte jedem ein Windlicht mit einer dicken Wachskerze darin. Der Müller gab seinen Schlitten, um darauf Proviant und warme Decken zu transportieren. Jeder schenkte einem anderen etwas, dass er brauchen konnte, um der Kälte zu widerstehen.

Dann zogen sie gemeinsam los ins Reich des Winters. Auf ihrem dunklen Pfad hätten sie sich beinahe wieder verlaufen, doch der Wolf zeigte ihnen den Weg. Der Wind heulte in den schwarzen Fichten um sie herum, und in das Heulen mischten sich die Stimmen der Wendigos, die sich nur allzu gern auf die schutzlosen Menschen stürzen wollten. Doch Stepon begann mit seiner dünnen Stimme, ein Lied zu singen, das Meryem ihm beigebracht hatte. Und die Bäckerin und der Bäcker sangen mit, und dann auch die anderen, und sie holten ihre kleinen Lichter hervor und marschierten singend und lachend in das Reich des Winterkönigs. Die Wendigos zogen sich furchtsam vor der Wärme und dem Licht zurück und verkrochen sich fauchend in den Schatten, lauernd auf einen Moment des Zwists und der Uneinigkeit, in dem sie sich erneut hervor wagen konnten.

Dann schließlich kamen die Menschen zu dem Gefängnis der Schneekönigin Meryem. Die Mauern waren aus Eis und die Gitter aus dicken Eiszapfen. Die Menschen versuchten, mit Äxten und Beilen dem Eis beizukommen, doch es war hart wie Kristall. Also beschlossen sie, dass sie es schmelzen mussten. Sie versuchten, die Bäume des Winterreiches zu fällen, doch auch die Stämme waren hart gefroren wie Stein, und als der Bäcker seine Axt dagegen hieb, sprang das Blatt entzwei. 

Einen Moment lang berieten sie miteinander. Dann sagte der Müller, der am meisten wiedergutmachen wollte: “Nehmt meinen Schlitten!” Also schoben die den Schlitten ganz nah an das eisige Gefängnis heran und zerteilten die Kufen und Holzplanken in kleine Stücke. Dann zündete der Kerzenmacher den Stapel an. Das Feuer brannte hoch, doch es fehlte noch ein wenig, damit die Flammen das Eis erreichen konnten. Also warf der Weber seine feinste Decke darauf. Der Schuster trennte die Wolle aus dem Inneren seiner Stiefel. Der Bäcker warf den Griff seiner Axt auf den Haufen. Der Jäger gab seinen Speer und seine Pfeile. Und sogar Stepon gab sein kleines Spielzeugpferd aus Holz hinzu. Und endlich loderten die Flammen hoch genug, und das Eis schmolz. Da stießen die Menschen Freudenrufe auf und stimmten Lieder an, und die Wendigos wollten sich tiefer in den Wald zurückziehen, da erfasste ein plötzlicher Wintersturm sie und warf sie in die Flammen, und sie fingen Feuer wie trockene Blätter und zerfielen zu Asche. Und zwischen den Menschen erschien der Winterkönig, denn er hatte ihr Tun beobachtet und den Wintersturm gerufen. 

Meryem trat aus dem Gefängnis, das zu einer Pfütze geschmolzen war, und trat ihm mutig entgegen. “Ich danke dir für deine Hilfe”, sagte sie. “Nun lass die Sonne wieder scheinen, damit die Menschen leben können!”

Der Winterkönig lächelte kühl, und er sprach: “Du hast dich als mir ebenbürtig erwiesen, Schneekönigin. Ich tat dir Unrecht, als ich dich festhalten wollte. Du sollst frei sein und über den Schnee herrschen, wie es dir gebührt. Doch ich bin der Winter, ich erfülle keine Bitten und ich gebe nie etwas umsonst. Was die Menschen wünschen, müssen sie mir durch eigene Kraft abringen.“

„Wie?“, fragte Meryem.

„Tötet das gehörnte Biest für meine Festtafel, und bringt es mir, dann dürfen du und deine Leute eine Nacht an meiner Tafel feiern. Und dann werde ich die Sonne wieder aufgehen lassen.”

Die Menschen murmelten furchtsam miteinander. Jeder wusste, dass das gehörnte Biest zu stark war, um es zu töten. Es säte Angst und Schrecken in jedem, der ihm nur nahe kam. Doch sie waren viele, und sie konnten nicht ohne die Sonne leben.

„Wir werden es tun“, sagte Meryem.

Und der Winter gab jedem von ihnen einen Speer aus Eis. „Gute Jagd“, sprach er ernst.

„Wir können Stepon nicht mitnehmen“, sagte Meryem.

„Er wird bei mir sicher sein“, sagte er Winterkönig, und reichte dem Jungen die Hand.

Gemeinsam machten die Menschen sich auf den Weg, und mit der Hilfe des Jägers und des Wolfes fanden sie schnell die Fährte der Bestie. Noch einmal würde die Kreatur sich nicht überlisten lassen, diesmal mussten die Menschen sie wirklich bezwingen. Immer wieder blieb einer von ihnen stehen, überwältigt von Angst, und wollte umkehren, doch die anderen ermutigten ihn so lange, bis er sich ein Herz fasste. Dann stellten sie die Bestie. Speichel tropfte von ihren Hauern, an denen noch das Blut und Fell ihrer letzten Beute klebte. Ihre glühenden Augen erfassten die Menschen mit wildem Blick. Und ihre Herzen gefroren in Furcht, die sie zu lähmen drohte, als die Bestie vor ihnen aufragte. Die Bestie senkte drohend die Hörner und stürmte auf die Menschen los, doch sie hielten zitternd stand und streckten ihm ihre Speere entgegen und die Bestie stoppte und wandte sich ab. Und jedes Mal, wenn die Bestie erneut zum Angriff überging und sie ihr in die Augen starrten und standhielten, wurde sie etwas weniger gewaltig. Dann packte die Schneiderin ihren Speer und stieß einen lauten Schrei aus und trat drohend einen Schritt auf die Bestie zu, und der Müller tat es ihr gleich, und dann wandte das gehörnte Biest sich zur Flucht. Eine dunkle Nacht und einen dunklen Tag lang hetzten die Menschen es durch den Wald. Die spitzen Hörner der Bestie und ihre großen Hauer schlugen nach den Menschen, und der Bäcker wurde verletzt, doch die anderen stellten sich vor ihn, sodass das Biest ihn nicht erreichen konnte. Und schließlich trieben sie es in die Enge, und Meryem stieß ihm ihren Speer ins Herz. Das Blut der gehörnten Bestie tropfte in den Schnee, und die Angst fiel von den Menschen ab und sie jubelten erleichtert.

Sie teilten ihre Beute mit dem Winterkönig. Als sie zurückkehrten, sahen sie Stepon, der einen Mantel aus weichen Flocken trug und aus Schnee einen Mann mit einer Krone gebaut hatte. Der Winterkönig lud die Menschen an seine Tafel, und für eine Nacht spürte niemand von ihnen Kälte. Unter den dunklen Fichten und den glitzernden Sternen feierten sie ein großes Fest. Überall wurden kleine Lichter entzündet, und alle aßen Brot, Kuchen und Braten, bis sie keinen Bissen mehr zu sich nehmen konnten. Gewürzter Wein benetzte ihre Kehlen, und bis tief in die Nacht sangen die Menschen Lieder und tanzten im Schnee. Und sie verabschiedeten sich von Meryem, denn sie würde mit dem Winterkönig in sein Land gehen, nicht als Gefangene, sondern als Schneekönigin. Das ganze Jahr würde sie im Reich des Winterkönigs leben, und nur in der kalten Jahreszeit die Menschen besuchen, um ihnen im Schnee den Weg zu weisen und auf sie zu achten.

Am nächsten Morgen waren der Winterkönig und die Schneekönigin verschwunden. Doch am Horizont ging mit goldenem Glanz die Sonne auf.

Die Menschen kehrten zurück in ihr Land. Es gab viel zu tun: Sie errichteten neue Häuser, viel näher beisammen, und ein großes Lager für ihre Vorräte. Niemand nahm etwas, das ihm nicht gegebn wurde. Sie fertigten einen neuen Schlitten für den Müller, neue Speere für den Jäger, und ersetzten alles, was sie verbrannt hatten. Sie lachten miteinander und als es wieder Nacht wurde, zündeten sie Lichter an, und niemals traute sich mehr ein Wendigo in die Nähe ihrer Häuser. Der Winter ging, und die Schneekönigin weinte, als sie Abschied nahm, doch im nächsten Jahr kehrte sie mit dem Winterkönig zurück. Die Tage wurden dunkler und die Nächte kälter, doch die Menschen hatten keine Angst. denn mit Meryem an seiner Seite ließ der Winterkönig die Sonne nie ganz verschwinden, und in der längsten Nacht feierte er mit den Menschen ein großes Fest, und sie lachten und sagen, bis am nächsten Morgen die Sonne wieder aufging.