Das Ende Europas

ODER: WER BRAUCHT EINE SOLIDARGEMEINSCHAFT, WENN MAN KOLONIEN HABEN KANN? – EIN KOMMENTAR

(c) Dan Perjovschi
(c) Dan Perjovschi

Ich habe das Vergnügen,  gegenwärtig in den USA zu weilen und stets, wenn ich mit einem Amerikaner  oder einer Amerikanerin ins Gespräch komme und anmerke, dass ich aus Deutschland stamme, dreht sich das Gespräch in eine von drei Richtungen: Fußball, Autos oder Griechenland. Und während mir 44 Beine und ein Ball auf dem Grün ebenso egal sind wie die S-Klasse vom Mercedes, bereitet mir dieser letzte Punkt echte Sorge. Als jemand,  für den Grenzkontrollen und unterschiedliche Währungen in Europa allenfalls eine vage Erinnerung der frühen Kinderjahre sind, war und ist die europäische Idee ein utopischer Leuchtturm der Vision einer besseren Welt inmitten  eines Meers  postideologischer Sachzwanglogik gewesen. Heute bleibt von diesem Idealismus nicht viel zurück. Die Ereignisse der letzten Monate waren wahrlich desillusionierend. Denn die Geschehnisse um Griechenland sind die Symptome eines Europas, welches sich dem nationalen Kalkül deutscher Politik voll und ganz unterworfen hat.

Die Dunkle Bedrohung

Das hellenische Drama beginnt vor mittlerweile mehr als 5 Jahren, im April 2010: Damals erklärt der vor kurzem ins Amt des Premierministers getretene Sozialdemokrat Papandreou, dass das griechische Haushaltsdefizit bei 13 und nicht nur bei 6 Prozent läge, wie es ihm sein konservativer Vorgänger ursprünglich mitgeteilt hat. Daraufhin gibt er die drohende Zahlungsunfähigkeit bekannt.

Die Gründe dafür, dass es überhaupt so weit kommen konnte, sind mannigfaltig – Griechenland ist aus ökonomischer Perspektive sicherlich kein Heiliger: Eine unsolide Haushaltspolitik (frisierte Zahlen hatten Griechenland überhaupt erst den Weg in den Euro geebnet, was in den interessierten diplomatischen Kreisen in Deutschland und Frankreichs selbstverständlich bekannt gewesen war), mangelnde Wettbewerbsfähigkeit in Form hoher Lohnstückkosten und einem Außenhandelsdefizit, Klientelismus und Vetternwirtschaft (deren Tradition bis ins frühe 19. Jahrhundert zurückreicht), Korruption und mangelnde Steuermoral. Und nicht zuletzt die Kosten der Bankenrettung in Folge der Finanzkrise zwei Jahre zuvor, wie sie nahezu alle europäischen Staaten zu schultern hatten. All diese Faktoren bedingen die drohende griechische Staatspleite.

Im damals ohnehin strauchelnden Europa könnte ein solcher Bankrott einen katastrophalen Flächenbrand auslösen, insbesondere, da viele europäische Banken griechische Staatsanleihen halten, die im Falle eines Bankrotts drastisch an Wert verlieren. Da Griechenland sich an den Märkten kein günstiges Geld mehr leihen kann, formierte sich die sogenannte Troika – eine Trias aus Internationalem Währungsfond, Europäischer Zentralbank und Europäischer Union – um die Hellenen finanziell über Wasser zu halten. 73 Milliarden Euro an Krediten werden von IWF und EU 2010 überwiesen, 2012 folgt ein weiteres Hilfspaket, man verleiht 143 Milliarden Euro. Die EZB kauft währenddessen griechische Staatsanleihen auf, um das Risiko des erwähnten Flächenbrandes zu mindern. Natürlich gehen auch die 216 Milliarden von IWF und EU in nahezu allen Fällen direkt wieder auf die Konten derjenigen, die Griechenland Geld geliehen hatten (also vor allem Banken im Rest Europas).  Im Land selbst merkt man kaum etwas von den Zahlungen.
Doch die Kredite haben einen hohen Preis: Die Troika verlangt drastische Reformen von Griechenland. Der Staatshaushalt soll einen Überschuss erwirtschaften, koste es, was es wolle. Die sogenannte Austeritätspolitik nimmt  Form verschiedenster Maßnahmen  an: Rentenkürzungen, Steuererhöhung, die insbesondere die mittleren und unteren Einkommen betrafen (direkte Steuern stiegen um 53%, indirekte um 22%), Lohnkürzungen (im Schnitt 25% im öffentlichen Dienst), Entlassungen, Schwächung von Arbeitnehmerrechten, Senkung des Mindestlohns, etc.

(c) Dan Perjovschi
(c) Dan Perjovschi

Die Auswirkungen dieser Politik sind verheerend: Von 2008 bis 2013 büßt Griechenland ungefähr 26% seines Bruttoinlandsprodukts ein, die Arbeitslosigkeit steigt 2014 auf eben jenen Wert und der relative Schuldenstand zum BIP erhöht sich auf Grund der eingebrochenen Wirtschaft von 107 (2007) auf 177% (2014). Die Nettoeinkommen fallen in der gleichen Zeit stark, 30% der Bevölkerung sind 2014 ohne Krankenversicherung.
Selbst wenn man von der Notwendigkeit dieser desaströsen Maßnahmen und ihrer Folgen überzeugt wäre (und das sind gerade, wenn man Europa verlässt, nicht mehr viele Ökonomen), muss man das ungemeine Leid, welches auf diesem Wege angerichtet wurde, wohl anerkennen. Ist das europäische Solidarität?

Eine neue Hoffnung?

Unter diesen Bedingungen verlieren die etablierten Parteien PASOK (Mitte Links) und NEA DEMOKRATIA  (Mitte Rechts), welche die Austeritätspolitik scheinbar ohne große Kritik umsetzen, massiv an Zustimmung und radikale Kräfte erhalten Zulauf: Die rechtsradikale Crhysi Avgi, welche in Athener Stadtvierteln Jagd auf Ausländer veranstaltet und deren „Kameraden“ Waffen horten und sich mit erhobenem Arm grüßen, weckt unangenehme Erinnerungen an die große Depression der Jahre 1929-1933 und das was darauf folgen mochte.

Doch das Potential des Protestes kann die Partei, die das Sparprogramm ablehnt, nicht auf sich vereinen. Denn dann ist da auch noch das linke Bündnis SYRIZA, geführt vom jungen, aber charismatischen Alexis Tsipras, welches die Austeritätspolitik mit scharfen Worten verurteilt, aber nicht im gleichen Atemzug die Schuldigen bei der jüdischen Hochfinanz und afrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen sucht.  Eine Partei, die gegen das Establishment, aber doch für Europa zu stehen scheint. Der Rückhalt für die Etablierten bröckelt und als im Januar dieses Jahres bei vorgezogenen Neuwahlen SYRIZA mit 36.3% stärkste Kraft wird, ist Tsipras plötzlich Premierminister und seine Partei in der Regierung.

Die knapp 6 Monate, in denen Tsipras im Amt ist, waren eine Zeit des rasenden Stillstands. Jeder hat die Bilder noch vor Augen, jeder kann sich noch an die beiden zentralen Akteure der Geschehnisse erinnern: Tsipras und sein Finanzminister Varoufakis, wie sie in der Economy Class durch Europa fliegen und für eine andere Politik werben, Tsipras und Varoufakis, wie sie von Gipfel zu Gipfel hetzen, Tsipras und Varoufakis, wie sie immer weiter auf die Kreditgeber zugehen, Tsipras und Varoufakis, die auf dem Syntagma-Platz vor 100000 Menschen für ein „nein“ im kurzfristig angesetzten Referendum vom 5.  Juli werben.

Das Imperium schlägt zurück

Doch am Ende war da nur mehr Tsipras, der sich letztlich den Kreditgebern beugt und Bedingungen zustimmt, die selbst für die ND und PASOK kaum akzeptabel gewesen wären: Alleine damit die Troika die Gespräche über weitere Hilfen eröffnen(!), fordert man Steuererhöhungen, Rentenkürzungen, Liberalisierungen am Arbeitsmarkt und die Rücknahme verschiedener Gesetze, welche SYRIZA kurz nach Regierungsantritt zur Abfederung der schlimmsten Nöte in Griechenland erlassen hat. Weiterhin soll griechischer Staatsbesitz in Höhe von 50 Milliarden Euro in einen luxemburgischen Fond überführt werden, der nicht unter griechischer Kontrolle steht und dessen Erlöse zur Schuldentilgung genutzt werden. Sämtliche griechischen Gesetze müssen zuerst den Kreditgebern vorgelegt werden. Ein Schuldenschnitt wird generell ausgeschlossen. Und in einem quasi versaillesken Manöver bestätigt Griechenland die Alleinschuld an seiner Situation. Sobald all dies zeitnah durchgeführt wurde, wird es möglicherweise zu neuen Hilfen (Kredite, längere Zahlungsfristen,  etc. ) kommen.

Das ist kein Film – Das ist Wahnsinn

Könnten wir uns auch nur für eine Sekunde vorstellen, dass etwas Vergleichbares in Deutschland passieren würde? Was wäre die Reaktion auf den Straßen? Griechenland hat seine Souveränität partiell aufgeben müssen und es ist eine bittere Ironie, dass ausgerechnet eine Regierung, die mit dem Ziel gewählt wurde, dem Austeritätskurs ein Ende zu setzen, diesen letztlich auf so drastische Weise zu verschärfen gezwungen ist. Dank einiger Aussagen von Politikern, die an den Verhandlungen beteiligt waren, können wir uns jedoch ein genaueres Bild davon machen, wie es so weit kommen konnte. Die Details erwecken den Eindruck, als hätte man nie ein Interesse daran gehabt, mit SYRIZA in irgendeinem Punkt eine Übereinkunft zu finden. Wolfgang Schäuble wird von einem anonymen Mitglied der griechischen Delegation als König der Eurogruppe tituliert, ein Mann, nach dessen Willen sich die Finanzminister aller Staaten richteten und der die Linie vorgibt. Varoufakis bringt Schäubles Position gegenüber Neuverhandlungen der Hilfe in einem Interview zum Ausdruck:

Schäuble was consistent throughout. His view was “I’m not discussing the programme – this was accepted by the previous government and we can’t possibly allow an election to change anything.

Die EU spielte auf Zeit

Das Demokratieverständnis, welches in einer solchen Aussage zum Ausdruck kommt,  ist besorgniserregend: Der Souverän und seine Wahl wird in einer solchen Wahrnehmung nur zu einem marginalisierten Randphänomen degradiert, dessen Entscheidungen letztlich kosmetischer Natur sind, da sie am Kern der Machtverteilung nichts verändern dürfen. Trotz einer solchen Grundeinstellung Schäubles wurde 5 Monate lang diskutiert – von Verhandlungen kann man aber nicht wirklich sprechen. Varoufakis schlug vor, dass man sich auf die Bereiche einigen sollte, in denen  die Positionen nicht weit auseinanderlagen. Doch die Eurogruppe unter Schäuble lehnte dies ab, da man ein entweder eine umfassende Einigung oder gar nichts erzielen würde. Wenn man wiederum  über konkrete Maßnahmen, wie zum Beispiel eine Einkommenssteuerreform sprach, wechselten die Verhandlungsführer der EU das Thema, bevor man zu ernsthaften Annäherungen kommen konnte. Mit anderen Worten: Die EU spielte auf Zeit. Sie konnte Griechenland am langen Arm verhungern lassen und das tat sie auch, in dem sie über die EZB Liquidität aus dem griechischen Bankensystem zog. Am Ende hatten Tsipras und Varoufakis keine Wahl:

So by the time the liquidity almost ran out completely, and we were in default, or quasi-default, to the IMF, they introduced their proposals, which were absolutely impossible… totally non-viable and toxic. So they delayed and then came up with the kind of proposal you present to another side when you don’t want an agreement.

In dieser Situation boten sich nur die Möglichkeiten eines unkontrollierten Ausscheidens aus dem Euro (eine Situation, für die es keinerlei Mechanismen oder Pläne gab und deren Folgen unvorstellbar desaströs sein könnten) und die Akzeptanz einer beliebig harten Vereinbarung, wie es letztlich geschehen ist. Man gewinnt den Eindruck, dass sowohl Tsipras als auch Varoufakis mit einer Einstellung in die Verhandlungen gegangen sind, die man wohl (traurigerweise) als politische Naivität bezeichnen muss: Sie waren an einem ernsthaften Diskurs interessiert, der sicherlich nicht immer fair, aber doch sachbezogen geführt wurde. Sie gingen davon aus, dass die Eurogruppe ihren Argumenten in irgendeiner Form zugänglich wäre. Kurzum: Sie dachten, dass letztlich allen an einer optimalen Lösung der Situation im Sinne Europas gelegen wäre.

Deutschland ist massiver Profiteur

Seitens der zentralen Akteure auf Seiten der EU unter Führung von Wolfgang Schäuble (mit Unterstützung der konservativen Regierungen in Osteuropa, Spanien und Finnland) war das Interesse jedoch ein ganz anderes, nämlich ureigene  nationale Interessenpolitik: Unter den gegebenen Umständen ist Deutschland ein massiver Profiteur der Situation und das in dreifacher Hinsicht:  Einerseits wird es in der gegenwärtigen Krise als einer der wenigen sicheren Häfen in Europa für Investoren wahrgenommen, weshalb es Staatsanleihen zu extrem niedrigen Zinsen ausgeben kann. Geld, das nicht zuletzt teilweise direkt als höher verzinster Kredit an Griechenland weiterfließt. Andererseits sorgen der Zusammenbruch der südeuropäischen Staaten und die anhaltend hohe Jugendarbeitslosigkeit für einen steten Strom junger und gut qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland (einer der Gründe der bemerkenswerten Migration, welche seit 2009 eingesetzt hat). Drittens schließlich ist der Euro generell und der verhältnismäßig schwache Euro im Moment ein Geschenk der Götter für eine Nation mit einem derartig bizarren Außenhandelsüberschuss wie Deutschland: Die deutsche Wirtschaft wird im globalen Maßstab deutlich wettbewerbsfähiger und kann ihre Produkte günstiger anbieten. (Allerdings wird dies nicht auf Dauer funktionieren, da der deutsche Außenhandelsüberschuss nahezu zwangsläufig zu der Verschuldung anderer Staaten führt, mit der wir in Europa momentan zu kämpfen haben).

So gesehen ist der Status Quo aus deutscher Sicht de facto erhaltenswert. Ein Verhandlungserfolg Griechenlands hätte linken Bewegungen in anderen südeuropäischen Staaten Auftrieb gegeben und die gesamte Idee der Austerität in Frage gestellt. Man musste SYRIZA dieser Logik folgend maximal demütigen und klarmachen, dass jeder, der sich nicht der maßgeblich von Deutschland oktroyierten Sparpolitik beugt, mit äußerten Konsequenzen zu rechnen hat. Es ist in der gegenwärtigen, sich täglich ändernden Situation kaum zu sagen, ob dieser Plan von Erfolg gekrönt ist, aber es erscheint zumindest als nicht unwahrscheinlich.

Wo stehen wir also am Ende? Meines Erachtens nach erlebt Europa gegenwärtig eine seiner dunkelsten Stunden. 70 Jahre europäische Einigung werden seitens Deutschlands auf dem Altar ökonomischen Großmachtsstrebens geopfert.  Weder Demokratie noch die Kraft des besseren Arguments gilt etwas, stattdessen herrscht das Recht des Stärkeren. Die Imperative des Marktes lassen die postdemokratischen Verhältnisse offen zu Tage treten und in Deutschland sind Medien, Politik und Bevölkerung in ihrer Befürwortung eines harten Kurses gegenüber Griechenland dermaßen nah beisammen, dass ich mich beim täglichen Blick in die Zeitung frage, ob ich hier eigentlich eine digitale Version der Prawda lese.

Gosset
16.07.2015