Wie entwickelt sich die Bevölkerung? – Teil 2

TEIL 2: DER GLOBALE BLICK – NIEDRIGE GEBURTENRATEN ALS RETTER DER MENSCHHEIT?

(c) Anne Trieba: www.annetrieba.blogspot.de
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In einem ersten Artikel hatte ich einen groben Überblick über die demographische Situation der Bundesrepublik gegeben. Als Ergebnis können wir festhalten, dass die Fertilitätsrate der Bundesrepublik auf einem historisch niedrigen Niveau angelangt ist und sich die Lebenserwartung gleichzeitig in den letzten Jahrzehnten deutlich erhöht hat – was zu einer Reduktion der Bevölkerung und einer Alterung der Gesellschaft führt. Nur durch eine massive Migration kann die Einwohnerzahl Deutschlands konstant gehalten werden. Eine Entwicklung, die vielfältige neue Probleme nach sich zieht.

Deutschland, die Avantgarde

Warum muss das nur alles so kompliziert sein? Kann die Deutsche Frau™ nicht einfach wieder 2.1 Kinder gebären, also genug, damit die Bevölkerung eines Landes zumindest konstant bleibt? Das Beispiel der DDR mit ihrer sehr stark auf Familienfreundlichkeit ausgerichteten Politik zeigte, dass solche Maßnahmen kurzfristig helfen können. Mittelfristig trafen sich DDR und BRD zur Wiedervereinigung jedoch auf einem gleichermaßen niedrigen Niveau an Geburten. Doch selbst, wenn es nun eine Politik gäbe, mit deren Hilfe man die Fertilität der Gesellschaft quasi beliebig erhöhen könnte – Sollten wir davon Gebrauch machen? Aus globaler Perspektive ist das stetige Sinken der Fertilitätsrate nämlich alles andere als schlecht. Lösen wir uns also von Deutschland und betrachten wir die Welt.

Mit Blick auf den Westen lässt sich sagen, dass Deutschland schlichtweg Teil der Avantgarde eines allgemeinen Prozesses ist: Sowohl innerhalb der EU als auch für die gesamte OECD lässt sich ein Sinken der Fertilität und ein Einpegeln auf niedrigem Niveau (< 2.1) über den Verlauf des letzten Jahrhunderts beobachten. Die auffälligsten Ausnahmen sind hierbei die USA, welche seit 1990 knapp um die 2.1 oszillieren und Israel, das seit Jahrzehnten um die drei pendelt (wobei die israelische Demographie allgemein außerordentlich komplex ist). Diese ändern aber nichts am generellen Trend: Die entwickelten Staaten der Erde bringen weniger Kinder zur Welt, als zur Aufrechterhaltung ihres Bevölkerungslevels notwendig wären.

Eine wachsende Weltbevölkerung auf einer endlichen Erde

Ungeachtet dieser Tendenz haben wir es jedoch immer noch mit einer wachsenden Weltbevölkerung zu tun: Lebten 1974 noch vier Milliarden Menschen auf der Erde, waren es 1987 bereits fünf, die sechs wurde bereits 12 Jahre später erreicht und 2011 wurde medienwirksam der siebenmilliardste Mensch geboren. Sieht man sich die historische Bevölkerungsentwicklung vom Jahr 0 aus an, hat man das unangenehme Gefühl, es mit einem exponentiellen Wachstumsprozess zu tun zu haben. Und unendliches exponentielles Wachstum auf einer endlichen Erde ist eine verdammt dumme Idee. Nach wie vor existieren gerade in Subsahara-Afrika Staaten wie z.B. Uganda: Das Land von der Größe der Bonner Republik verfügt gegenwärtig über eine Fertilitätsrate von 5,5, der Altersdurchschnitt liegt bei schwer zu fassenden 15.5 Jahren. Zum Vergleich: Deutschland liegt bei 43,7. Vor 15 Jahren lebten 25 Millionen Menschen in Uganda, heute sind es bereits 35 Millionen. Die UN sieht Uganda im Jahr 2050 bei 100-130 Millionen. Bis dahin wird sich die Gesamtbevölkerung Afrikas „nur“ verdoppeln und dann bei 2,4 Milliarden Menschen liegen.

In diesem Sinne ist eine Fertilität unterhalb der Reproduktionsrate, wie wir sie hier im Westen finden, aus globaler Sicht das Beste, was der Menschheit passieren kann. Wenn unsere Fertilitätsrate z.B. auf Grund irgendeines dummen evolutionären Missgeschicks bei 3,0 gedeckelt und ohne massive gesellschaftliche Kontrolle nicht unter dieses Niveau zu bringen wäre, wenn also auch der Westen stetig weiter wachsen würde, gerieten wir bereits nach kurzer Zeit in arge Schwierigkeiten, die Menschheit überhaupt zu ernähren, geschweige denn ihr einen mit dem europäischen Niveau vergleichbaren Lebensstandard zu garantieren (das ist bereits heute eine ungemeine Herausforderung).

Sinkende Geburtenraten

Wie gesagt: Dem ist aber nicht so. Auch in Afrika wird die Fertilitätsrate weiter sinken: Global wird sie bis 2020 unter die globale Reproduktionsrate gefallen sein. Waren 1970 nur 24 Länder bei einer Fertilität von 2,1 oder weniger angelangt, sind es heute mehr als 70. Zwischen 1950 und 2000 sank die Zahl der Geburten pro Familie in Entwicklungsländern von 6 auf 3. Europas Fertilität halbierte sich gleichzeitig von 2,65 auf 1,42. Dass es sich hierbei um einen wahrlich globalen Trend handelt, zeigt der Iran: Als das klerikal-faschistische Regime der Ayatollahs 1979 an die Macht kam, schaffte es alle Familienplanungsmaßnahmen des Landes ab und die Fertilität explodierte innerhalb von 5 Jahren auf 7,0. Bis 2006 sank sie auf gerade einmal 1,9.

Die Anzahl unserer Kinder scheint also glücklicherweise eine durch alle genetischen Variationscluster (oder altmodisch: Ethnien) hindurch von den Lebensumständen abhängige Variable zu sein. Die Daten sprechen ebenfalls dafür; die Korrelationen zwischen Fertilitätsrate und Größen wie BIP oder der durchschnittlichen Bildung innerhalb eines Staates sind bemerkenswert. Doch weshalb? Man kann kurzgefasst sagen, dass der Nutzen eines weiteren Kindes in der Moderne drastisch gesunken ist.
Stellen wir uns ein isoliertes Dorf vor, das genauso gut in Nigeria wie auch im Schlesien des 13. Jahrhunderts liegen könnte. Die Wirtschaft ist subsistenzbasiert, man lebt also großenteils von den eigens auf dem Feld produzierten agrarischen Erzeugnissen, erwirtschaftet in guten Jahren einen kleinen Überschuss. Der Faktor, welcher die Ernte begrenzt, ist primär ein Mangel an menschlicher Arbeitskraft. Jede weitere Hand wird also gebraucht. Gleichzeitig gibt es kein System staatlicher Absicherung gegen die Risiken des Lebens; die Gesundheits-, Renten- und Pflegeversicherung wird durch den eigenen Nachwuchs verkörpert. Krankheiten verringern die Chancen, dass ein Kind überhaupt erst das Erwachsenenalter erreicht, zusätzlich beträchtlich.

In einer arbeitsteiligen Gesellschaft mit mehr oder minder starkem Staat verändert sich das Bild deutlich: Zumindest einer der Elternteile kann im Falle hoher Kinderzahlen nur noch schwer einer Arbeit nachgehen. Gleichzeitig garantiert eine gute Bildung eines Sohnes oder einer Tochter möglicherweise bereits ein besseres Einkommen, als die unqualifizierte Arbeit mehrerer Kinder. Kindersterblichkeit kann bereits durch ein rudimentäres medizinisches Netz drastisch reduziert werden und ein Sozialstaat oder ein Versicherungssystem kann eine Absicherung für das Alter oder den Krankheitsfall bringen. Weiterhin existiert eine starke Differenz zwischen der gewünschten Fertilität und der tatsächlichen: Entsprechende Aufklärung und Verhütung ist also ein weiterer wesentlicher Faktor. Damit eng verknüpft ist die wachsende Bildung der Frau, welche mit einer stärkeren Unabhängigkeit und der Befreiung aus patriarchalen Machtverhältnissen (Empowerment) einhergeht. Unter diesen Bedingungen entscheiden sich Frauen eher für Erwerbsarbeit und Verhütung anstelle von Mutterschaft und Kinderreichtum.

Das 4-Phasen-Modell

Diesen Dynamiken folgend entwickelten Warren S. Thompson (1929) und Frank W. Notestein (1945) erste Ansätze des sogenannten 4-Phasen-Modells, das sich (in abgewandelter und leicht komplexerer Form) zu einer der wesentlichen Theorien der Demographie entwickelt hat. Eine Gesellschaft durchläuft demnach 4 Phasen:
1. In der Ausgangssituation ist sowohl die Geburten- als auch die Sterberate auf einem hohen Niveau, eine Situation, wie wir sie aus dem Europa der vorindustriellen Zeit kennen.
2. Durch exogene Faktoren wird nun ein Prozess in Gang gesetzt, der die Mortalität nun in wenigen Jahren drastisch reduziert (gestiegener Wohlstand, bessere medizinische Versorgung, etc.). Die Fertilität bleibt jedoch in dieser Phase nach wie vor auf einem hohen Niveau, die Bevölkerung wächst demnach drastisch.
3. In der dritten Phase sinkt die Mortalität nach und nach…
4. …bis sich schließlich ein neues Gleichgewicht auf niedrigem Niveau einpegelt.

Viele Entwicklungs- und Schwellenländer (und damit der überwiegende Teil der Welt) befinden sich gegenwärtig in Phase 2 oder 3. Der Westen hat für den Übergang von Phase 3 zu Phase 4 sehr lange gebraucht, Großbritannien alleine 150 Jahre. Müssen wir uns global also auf eine deutlich größere Bevölkerung einstellen, was unsere Wirtschaft und die Kapazitäten des Planeten an ihre Grenzen bringt? Jein. Das Tempo des demographischen Wandels hat sich im letzten Jahrhundert deutlich erhöht: Mexiko brauchte so z.B. für die Transition zu Phase 4 gerade einmal 40 Jahre. Ganz schlimm wird es also wahrscheinlich nicht kommen. Trotzdem gestaltet sich eine Vorhersage schwierig. Die UN nennt hauptsächlich drei Modelle: Als wahrscheinlich wird ein Wert von 10 Milliarden Menschen um 2050 herum angesehen, welcher sich dann stabilisiert. Im Falle eines linearen Wachstums würden 2100 jedoch 16 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Sollte sich der demographische Wandel hingegen noch schneller vollziehen, sind wir am Ende des Jahrhunderts unter dem heutigen Niveau. In allen drei Modellrechnungen wird sich die Bevölkerungsverteilung jedoch drastisch verändern. China, Indien, Nigeria und die USA werden dann die bevölkerungsreichsten Staaten der Welt sein, Europa und Russland hingegen selbst unter Annahme starker Migrationsströme im Vergleich zum Rest der Welt drastisch verlieren.

Letztlich sind es diese Fakten und Tendenzen, die unterschwellig eine Vielzahl von Diskursen mitbestimmen, ganz gleich ob Migration, Flüchtlinge, Klimawandel, Entwicklungshilfe, Säkularisierung, Geopolitik oder Postwachstum, stets liegt die Demographie zu Grunde. Dementsprechend hoffe ich, zumindest einen groben Überblick über die Thematik gegeben zu haben, auf dessen Basis man sich den anderen Themen, insbesondere Migration und Säkularisierung in Zukunft annähern kann.

Tobias Wolf
17.07.2015